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PUT Nr.
11
FOrschungsmagazin der Bergischen Universität Wuppertal
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Sommersemester 2014
15
Abb. 2a: Ernährungslage
inWuppertal/Düsseldorf
1939–1950, gemessen
durch Kalorien/Tag auf
Lebensmittelkarten, nach
Zuteilungsperioden.
verschlechterte sich die Lage sehr schnell. Die Lebens-
mittelkrise war in Bezug auf Kalorien (aber auch Pro-
teine und Kohlenhydrate) unmittelbar zu Kriegsende
am größten, und dem in der epidemiologischen Lite-
ratur gut untersuchten „holländischen Hungerwinter“
1944/45 – in Abbildung 2a gestrichelt dargestellt –
wenn nicht an Dauer so doch an Schärfe vergleichbar.
Im Mai 1945 standen pro Erwachsenen und Tag nur
noch etwa 650 Kalorien zur Verfügung. Bis zur Wäh-
rungsreform blieb die Ernährungslage insbesondere zu
Beginn jeden Jahres sehr schlecht.
Abbildung 2b zeigt den Anteil, der während und nach
dem Zweiten Weltkrieg geborenen deutschen Männer
mit höherem Schulabschluss (Realschule oder Gymna-
sium), errechnet aus der Volkszählung 1970. Jeder Punkt
stellt dabei eine Geburtsmonatskohorte, die gestrichelte
Linie einen gleitenden Durchschnitt dar. Man erkennt
gerade für diejenigen, die unmittelbar zu Kriegsende
gezeugt (und neun Monate später, d. h. Anfang 1946
geboren) wurden, deutlich niedrigere Anteile mit hö-
herem Schulabschluss. Die zeitliche Koinzidenz ist
kein Zufall und legt den Schluss nahe, dass punktuelle
extreme Mangelernährung der Mutter zu Beginn einer
Schwangerschaft – d.h. in der ersten einer Reihe von kri-
tischen Phasen der Hirnentwicklung – langfristige nega-
tive Folgen auf die kognitive Entwicklung von Kindern
hat. Möglicherweise spielt sogar die Gesundheit der
Mutter unmittelbar vor der Schwangerschaft eine Rol-
le, das lässt sich mit den verfügbaren Daten aber nicht
klar abgrenzen. Wenngleich die vorgelegte Evidenz nur
ein Indiz und kein Beweis für die behaupteten Zusam-
menhänge ist, so kann man praktisch alle alternativen
Erklärungen widerlegen.
Nun ist die Situation im Nachkriegsdeutschland eine
historische Ausnahmesituation und man kann zu Recht
fragen, was wir aus dem obigen Befund lernen. Eine un-
mittelbar resultierende Empfehlung wäre, dass Präven-
tion schon vor einer Schwangerschaft oder in den ersten
Schwangerschaftswochen greifen sollte, also zu einem
Zeitpunkt, wo eine Schwangerschaft noch gar nicht
besteht oder die Mutter noch nicht davon weiß. Man
kann das gewonnene Wissen aber auch auf weniger ent­
wickelte Länder übertragen, die im Hinblick auf die all-
gemeine Ernährungslage und politische Krisensituation
mit der damaligen Situation in Deutschland ansatzweise
vergleichbar sind.
Ein von der DFG gefördertes und am Lehrstuhl für
Gesundheitsökonomie und -management koordinier-
tes Forschungsprojekt untersucht den Zusammenhang
von kindlicher Gesundheit und kognitiver Entwicklung
im Westjordanland. Auch hier stellt die von politischen
Krisen und materieller Armut geprägte Situation An-
schauungsmaterial für die wissenschaftliche Analyse
bereit. So hatte sich beispielsweise mit Beginn der so-
genannten zweiten Intifada im September 2000 das
Pro-Kopf-Einkommen im Westjordanland praktisch
halbiert – mit bislang wenig erforschten Folgen für die
Gesundheit und kognitive Entwicklung der um diesen
Zeitpunkt herum geborenen Kinder.
Unter Beteiligung der Al Quds und der Hebrew Uni-
versität in Jerusalem sowie des palästinensischen Bil-
dungsministeriums in Ramallah wurden daher im Mai
und Juni 2013 fast 6000 palästinensische Schülerinnen
und Schüler im Alter von 11 bis 15 Jahren einem stan-
dardisierten Intelligenztest unterzogen und auf ihre
körperliche und seelische Gesundheit hin untersucht.
»
{ Health, cognitive development and educational success }
Abb. 2b: Schulabschlüsse
männlicher Geburtsko-
horten 1939–1950, nach
Geburtsmonat.
Quelle: eigene Berech-
nungen auf Basis der
Volkszählung 1970.
Foto Lebensmittelmarken: Bjoern Wylezich /Fotolia