Seite 27 - Schumpeter School Alumni e.V. Jahresmagazin 2012

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Anwendungsbereich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes -
dringender Handlungsbedarf
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Schumpeter School of Business aND ECONOMICS / WISSENSCHAFT AUS AKTUELLEM ANLASS
Laut Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 beabsichtigt die
Bundesregierung bei der Umsatzbesteuerung eine Über-
prüfung von „Benachteiligungen“. Als erste „Regulierungs-
maßnahme“ wurde allerdings der Umsatzsteuersatz für
Beherbergungsleistungen im Hotel- und Gastronomiege-
werbe ab dem 01.01.2010 auf 7 % ermäßigt. Im Folgen-
den wird analysiert, inwieweit die Anwendung differenzier-
ter Mehrwertsteuersätze theoretisch begründbar und eine
Verringerung der dem reduzierten Mehrwertsteuersatz un-
terliegenden Tatbestände unerlässlich ist.
1. Mehrwertsteuersatzdifferenzierungen
Ausgehend von der Annahme, dass eine dauerhafte Ab-
senkung des Mehrwertsteuersatzes eine Preisreduzierung
bewirkt, wurde aus sozialpolitischen Gründen erstmals am
08.12.1931 ein ermäßigter Steuersatz für Getreide, Mehl
und Backwaren eingeführt.-1- An den differenzierten Steu-
ersätzen wurde auch zum Zeitpunkt der Einführung der
Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug fest-
gehalten, obwohl die Negativaspekte wie Steuerausfälle,
Abgrenzungsproblematiken, Rechtsstreitigkeiten sowie
ungewollte Mitnahmeeffekte dagegen sprachen. Aktuell
findet der reduzierte Mehrwertsteuersatz auf die in § 12
Abs. 2 UStG sowie in der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1
und 2 UStG abschließend genannten Leistungen Anwen-
dung, d.h. alle anderen Umsätze unterliegen dem Nor-
malsteuersatz. Um die aus der Zuordnung der Leistungen
resultierenden Anwendungsschwierigkeiten zu verringern,
hat das Bundesministerium der Finanzen ein 140 Seiten
umfassendes Schreiben erlassen, das ständig aktualisiert
wird.-2- Tabelle 1 sind die Steuermindereinnahmen zu ent-
nehmen, die sich aus der Anwendung des ermäßigten Um-
satzsteuersatzes ergeben. Dabei wird deutlich, dass rund
73,9 % der Steuerausfälle allein auf die Begünstigung von
Nahrungsmitteln entfallen.
Bei einer ausschließlichen Zugrundelegung von Effizienz-
gesichtspunkten spricht theoretisch nichts gegen die An-
wendung eines einheitlichen Steuersatzes auf alle amMarkt
gehandelten Leistungen. Unter dem Aspekt der gerechten
Besteuerung muss allerdings beachtet werden, dass ein
einheitlicher Steuersatz sich bezogen auf das Einkommen
regressiv verhält. Ein Haushalt mit einem hohen Einkom-
men zahlt demnach für einen determinierten Waren- und
Dienstleistungskorb einen geringeren prozentualen Anteil
seines Einkommens an Steuern gegenüber einem Haus-
halt mit niedrigem Einkommen. Werden zusätzlich zu den
Effizienzgesichtspunkten auch Verteilungsaspekte in die
Betrachtung einbezogen, muss auch der soziale Grenznut-
zen des Einkommens als Determinante indirekter Steuern
beachtet werden. Die regressive Wirkung eines einheitli-
chen Mehrwertsteuersatzes kann durch einen ermäßig-
ten Satz neutralisiert bzw. verringert werden, woraus eine
gerechtere Einkommensverwendung resultiert. Eine För-
derung über die Einkommensteuer ist nicht zielbringend,
da der Einkommensteuertarif einerseits hinsichtlich seiner
Höhe gewissen Beschränkungen unterliegt und anderer-
seits nicht alle Steuerpflichtigen hiermit erreicht werden,
z.B. Geringverdiener oder auf Transferleistungen ange-
wiesene Haushalte. Die Höhe der Transferleistung beein-
flusst allerdings das in der Einkommensteuer steuerfrei zu
stellende Existenzminimum, so dass jede Mehrwertsteuer-
satzvariation, die eine Veränderung der Transferleistungen
bewirkt, auch einen ertragsteuerlichen Effekt hat. Von einer
Erhöhung des Existenzminimums profitieren infolge des
progressiven Einkommensteuertarifs wiederum ertrags-
starke Haushalte stärker als einkommensschwache. Die-
se Folgewirkung kann nicht verhindert werden, denn das
Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass der Steu-
ergesetzgeber stets darauf zu achten hat, dass eine Erhö-
hung indirekter Steuern und Abgaben den Lebensbedarf
vermehrt und die existenzsichernden Abzüge bei der Ein-
Tabelle 1: Steuermindereinnahmen durch den ermä-
ßigten Umsatzsteuersatz 2010
Nahrungsmittel einschließlich Milch und
Leitungswasser
17 000
Kulturelle und unterhaltende Leistungen
1 815
Beherbergungsleistungen
945
Personenbeförderung im Nahverkehr
830
Gartenbauliche Erzeugnisse
730
Leistungen der Zahntechniker
415
Krankenrollstühle, Körperersatzstücke,
orthopädische Einrichtungen etc.
395
Heimtierfutter
300
Leistungen gemeinnütziger, mildtätiger und
kirchlicher Einrichtungen
250
Sonstige
205
Kunstgegenstände, Sammlungsstücke
115
Insgesamt
23 000
Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2010/11, S. 214